Das Umweltstaatsziel des Art. 20a GG verlangt ein Leitgesetz
Am 23. Mai 2024 feiern wir “75 Jahre Grundgesetz”. Unsere Verfassung bildet eine Rahmenordnung für die Politik, deren Einhaltung durch das Bundesverfassungsgericht überwacht wird. Im Jahre 1994 trat zu den Strukturprinzipien des Grundgesetzes der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit mit Art. 20a GG ein Umweltstaatsziel hinzu. Mit Blick auf die von den Erdsystemwissenschaften ermittelten planetaren Belastungsgrenzen kommt dieser Norm noch einmal gesteigerte Bedeutung zu. Politische und rechtliche Relevanz hat das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen durch die im völkerrechtlichen Übereinkommen von Paris vereinbarten Klimaschutzziele erlangt.
Wenn auch spät, so ist der Gesetzgeber 2019 mit dem Erlass eines Klimaschutzgesetzes seinen Pflichten aus dem Staatsziel des Art. 20a GG, ein verbindliches, effizientes und kohärentes Schutzkonzept im Klimaschutz zu erlassen, im Grundsatz nachgekommen. Daran anknüpfend hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Klimabeschluss vom März 2021 die verfassungsrechtlichen Pflichten im Lichte dieses Leitgesetzes konkretisiert und im Wege einer neuartigen “intertemporalen Freiheitssicherung” sogar individuell einklagbar gemacht. Dabei kam der erdsystemwissenschaftlichen Erkenntnis von den planetaren Grenzen und einem daraus errechenbaren CO2-Budget maßstabssetzende Bedeutung zu (BVerfGE 157, S. 30-177). Seither schreitet die Rechtsentwicklung – wenn auch mit einigen Rückschritten wie der Aufgabe der Sektorziele – voran.
Dies gilt freilich nicht mit Blick auf andere planetare Grenzen, zuvorderst die globale Biodiversitätskrise. Ihr Ausmaß steht dem der Klimakrise in nichts nach. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir auch im Bereich der Biodiversität auf einem Punkt zusteuern, in dem der Schaden am Erdsystem irreparabel und die Folgen, vor allem beim Überschreiten von Kipppunkten, gravierend sein können.
Auch in der Biodiversitätskrise steuern wir also auf planetare Grenzen zu. Diese lassen sich mangels eines dem im Pariser Klimaschutzabkommen vereinbarten 1,5-2 Grad Ziel vergleichbaren Referenzpunkt zwar nicht so sichtbar quantifizieren. Jedoch ist auf Ebene des Völkerrechts mit Verabschiedung des Montrealer Global Diversity Frameworks (GDF) ein großer internationaler Erfolg gelungen, der mitunter als „Paris moment for biodiversity“ gefeiert wird. In diesem (allerdings nicht verbindlichen) Abkommen werden konkrete Ziele und Vorgaben gegen den Biodiversitätsverlust vereinbart. Goal A möchte die Aussterberate bis 2050 um das Zehnfache reduzieren. Zudem sollen bis 2030 30% aller Landes-, Küsten- und Meeresgebiete unter effektiven Schutz gestellt werden (Target 2 und 3). Beides ist ein großer Schritt hin zur effektiven Bekämpfung der Biodiversitätskrise. Auf europäischer Ebene soll das Problem mit einem “Nature Restauration Law” angegangen werden, das vom Europäischen Parlament gebilligt, aber derzeit im Rat der EU, in dem die Minister aus den Mitgliedstaaten das Sagen haben, hängt.
In der deutschen rechtswissenschaftlichen Debatte liegt der Fokus derzeit vor allem auf der Übertragbarkeit des aus dem Klimabeschluss stammenden Konstrukts der “intertemporalen Freiheitsrechte” auf die Biodiversitätskrise. Insoweit stellt sich vor allem die Frage, ob sich in Koppelung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit dem völkerrechtlichen GDF ein Restbudget als Basis für die “intertemporale Freiheitssicherung” begründen lässt. Anders als manche meinen ist der Budgetansatz insoweit nicht verzichtbar, da hieran das Freiheitsbudget anknüpft, das verhältnismäßig über die Zeit zu verteilen ist.
Der Blick auf die insoweit relevante Staatszielbestimmung des Art. 20a GG nimmt in der Debatte jedoch noch zu wenig Raum ein. Die Pflicht, „in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ zu schützen, umfasst die Artenvielfalt. Primärer Adressat der Norm ist der Gesetzgeber, dem insoweit eine Langzeitverantwortung obliegt. Auch wenn wissenschaftlich nicht genau vorhergesagt werden kann, wo die planetaren Grenzen samt Kipppunkten im Bereich der Biodiversität verlaufen, so verlangt Art. 20a GG vermittelt über das der Norm immanente Vorsorgeprinzip ein vorausschauendes Handeln auch unter Bedingungen der Ungewissheit (Risikovorsorge). Dementsprechend hat das BVerfG in Leitsatz 2b des Klimabeschlusses festgehalten, dass bei wissenschaftlicher Ungewissheit über umweltrelevante Tatsachen die sich aus Art. 20a GG ergebende Sorgfaltspflicht für künftige Generationen schon bei der bloßen Möglichkeit eines Schadens gelten muss. Somit kommt es nicht darauf an, ob sich die Biodiversitätskrise auf ein dem 1,5-2 Grad Ziel vergleichbaren, konkreten Maßstab herunterbrechen lässt. Überdies lässt sich der Schutzauftrag aus Art. 20a GG für die Biodiversität – wie vom BVerfG im Klimabeschluss herausgearbeitet (Leitsatz 2c, Rn. 199 ff.) – nicht durch den Verweis auf die globale Natur der Biodiversitätskrise entgehen. Vielmehr muss Deutschland im Lichte des völkerrechtlichen GDF hier seinen Anteil leisten. Mit Blick auf das Risiko eines Überschreitens der planetaren Grenze und in Erfüllung seines intertemporalen Schutzauftrags aus Art. 20a GG hat der Gesetzgeber somit ein wirksames und kohärentes Schutzkonzept in Form eines Maßstäbe- bzw. Leitgesetzes zu entwickeln, das dem Untermaßgebot genügt (Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 125 ff. mit 235 ff.).
Art. 20a GG erfordert für das Leitgesetz überdies einen schlagkräftigen Mechanismus des Monitorings, der sicherstellt, dass die festgelegten Ziele im politischen Alltag erreicht werden. Auch hier bietet das Klimaschutzgesetz mit seinen §§ 11, 12 einen Anhaltspunkt. Der dort etablierte Expertenrat hat jedoch eher eine Notar- als eine echte Kontrollfunktion. Zielführend wäre darüberhinausgehend ein Monitoring, das entlang des Gesetzgebungsverfahrens von der Exekutive bis zur Legislative wirkt und gewährleistet, dass für die Biodiversität relevante Gesetze am Maßstab des Leitgesetzes daraufhin überprüft werden können, ob sie mit dessen Vorgaben in Übereinstimmung stehen. Eine solche Selbstbindung und Selbstkontrolle des Gesetzgebers ist aus der Finanzverfassung bekannt. Sie wird dort in Art. 109 Abs. 4 GG sowie in Form des Maßstäbegesetzes vom BVerfG (E 101, 158, 214 ff.) eingefordert und kann auf Art. 20a GG übertragen werden (SRU, Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen, 2019, Rn. 314-350; Calliess, Nachhaltigkeitsräte, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 275, 286 ff.).
In Umsetzung des GDF hat die Bundesrepublik gem. Art. 20a GG einen wirksamen Beitrag zum Schutz der Biodiversität zu leisten, um so dafür Sorge zu tragen, dass die Menschheit Abstand zu dieser planetaren Grenze hält. In Anlehnung an den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber gemäß Art. 20a GG in der Pflicht, nach dem Vorbild des Klimaschutzgesetzes ein Leitgesetz für den Biodiversitätsschutz zu erlassen. Und die Bundesregierung ist im Rat der EU in der Pflicht, das vom Europäischen Parlament bereits gebilligte Europäische Naturschutzgesetz zu unterstützen.
Prof. Dr. Christian Calliess ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Umwelt- und Europarecht an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied im Club of Rome Deutschland und forscht im vom BMBF geförderten Kompetenznetzwerk Umweltrecht (KomUR) sowie der von der Berliner Exzellenzinitiative BUA geförderten Einstein Research Unit Klima und Wasser (CliWaC). Von 2008 bis 2020 war er Mitglied im die Bundesregierung beratenden Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU).