Wann ist genug genug?

Wer sich, wie ich, professionell mit ESG beschäftigt, also der Berichterstattung von Unternehmen über ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten und -Performance, musste sich in der jüngeren Vergangenheit mit vielen neuen Regularien und Standards auseinandersetzen: CSRD und ESRS, EU-Taxonomie, TCFD, Science-Based Targets, Net Zero Banking Alliance. Man muss nicht wissen, was im Detail hinter diesen Initiativen und Gesetzesvorhaben steht, um zu ahnen, dass diese Verpflichtungen bei Unternehmen in erster Linie zu einem Effekt führen: mehr Aufwand mit Datenerhebung und -verarbeitungsprozessen, mehr rapportierende Unternehmen, am Ende schlicht: mehr Daten.

Es geht mir nicht darum, in das gleiche Horn zu stoßen, wie viele Unternehmensverbände, nämlich dass sich ein wahrer Tsunami an Nachhaltigkeitsregulierungen über Unternehmen ergieße. Und dass Unternehmen damit völlig überfordert seien. (NB. Ein häufig benutztes aber im Grunde falsches Bild: ein Tsunami geht wieder, aber die ESG-Regulierung wird wohl kaum zurückgedreht werden.) Dass Unternehmen sich mit den Auswirkungen ihres Handelns auseinandersetzen und darüber Rechenschaft ablegen müssen – das wird selbst von den Hardlinern unter den Lobbyisten der Unternehmen nicht mehr abgestritten.

Mich beschäftigt eher die Frage, wann genug genug ist. Unternehmen müssen im Rahmen der EU-Regulierung feststellen, welche Themen aus Perspektive der Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt, und aus Perspektive von Einwirkungen von physischen und transitorischen Risiken für sie materiell sind. Aus dieser Wesentlichkeitsanalyse können dann rein theoretisch auch 20 unterschiedliche Themen herauskommen. Aber ist das plausibel? Ist es realistisch anzunehmen, dass ein Unternehmen sich mit 20 teilweise höchst unterschiedlichen Themen wie Klimawandel, Fachkräftemangel und Lieferkettenfehlstelllungen auseinandersetzt bzw. setzen kann? Ab wann kann ich – heuristisch – feststellen, dass mir ein Unternehmen weiß machen will, dass es „grün“ sei, wenn es das in der Tat gar nicht ist (Greenwashing)? Brauche ich 10 verschiedene Kennzahlen für Gender Diversity von einem Unternehmen, wenn schon ein Blick auf die Zusammensetzung von Kontroll- und Steuerungsgremien zeigt, dass Frauen völlig unterrepräsentiert sind? Und dass es mit der Ethnic Diversity auch nicht weit ist, wenn nur ältere weiße Männer im Vorstand vertreten sind?

Der Denkfehler liegt in einem rationalökonomischen Postulat, nachdem Informationen, die veröffentlicht oder zugänglich gemacht werden, auch rezipiert und konsumiert werden, und damit gleichermaßen kognitiv verarbeitet, also verstanden werden. Transparenz ist hier das Konzept, das nicht widerspruchsfähig ist, weil sich, wer gegen Transparenz argumentiert, selber ins Abseits stellt. Dabei wissen wir aus der Verhaltensökonomie, dass die menschliche Informationsverarbeitung ganz und gar nicht den rationalökonomischen Ansprüchen genügt: wir bekommen Informationen, die wir nicht oder nur oberflächlich lesen, fragen dann nach weiteren Informationen, die wir auch nicht gründlich lesen oder vielleicht nicht verstehen. Und unserer Regulierung läuft genau in diese gleiche falsche Richtung: immer mehr Informationen über unternehmerische Nachhaltigkeit sind verfügbar, wir könnten Stunden damit verbringen, Daten zu verarbeiten und sind dadurch dem Ziel, nachhaltiges von nicht-nachhaltigem oder grüngewaschenen Verhalten unterscheiden zu können, keinen Deut nähergekommen.

Mein Plädoyer ist nicht, die Nachhaltigkeitsberichterstattung zu diskreditieren oder gar abzuschaffen. Das wäre absurd. Ich plädiere dafür, Urteilskräfte zu schärfen, indem wir versuchen, heuristisch zu erkennen, welches die Merkmale unternehmerischer Nachhaltigkeit sind, anstatt „Fliegenbeine zu zählen“. Dass wir Fokussierung in den Mittelpunkt der unternehmerischen Nachhaltigkeitsberichterstattung stellen. Und dass wir, Data Science dort einsetzen, wo es gilt Zusammenhänge und Patterns nachhaltigen oder nicht-nachhaltigen Verhaltens zu identifizieren.

Von Ralf Frank